Nachruf auf Eva Hermann
Eva Hermann war bei der Geburt so schwach, daß der Arzt von einer „Friedhofsblume“ sprach, die im evangelischen Pfarrhaus zur Welt gekommen sei. Sie sah es im Rückblick als besonderes Geschenk an, im Wesergebirge am Bach und im Wald aufzuwachsen und im kleinen Garten mit dem Vergissmeinnicht-Beet „das erste ästhetische Entzücken des Lebens“ zu erfahren, und konnte schon früh die Energien ansammeln, die sie später für ihr Leben brauchte. Mit 15 kam sie in ein Internat, gegen dessen geistliche Überfütterung sich Widerstände in ihr regten, begegnete dort aber dem Menschen, der ihrem Leben fortan Richtung gab, sie auf die Quäker hinwies und mit dem sie immer verbunden blieb: ihrer Lehrerin Ruth von Gronow, zwölf Jahre älter als sie. Nach dem Lehrerstudium heiratete sie den Mineralogen Carl Hermann, der sich wie sie im Versöhnungsbund engagierte. Gemeinsam und verstärkt durch Martin Buber vertieften sie sich in die jüdische Geistesgeschichte und gewannen jüdische Freunde. Beide erkannten aus ihrer Quäker-Haltung heraus schon früh die Inhumanität des Faschismus. Von ihren Eltern zur Anpassung ermahnt, schrieb sie 1935, sie würde sich nicht unterwerfen und ihr Rückgrat brechen. Sie möchte sich gern zu denen rechnen, denen gelegentlich bezeugt worden sei, daß sie keinen knechtischen Geist empfangen hätten. Was aus ihrem Gehorsam für Folgen entstehen könnten, ginge sie glücklicherweise nichts an.
In engem Kontakt zu den Berliner und Londoner Quäkerbüros baute sie eine Beratungsstelle für Menschen auf, die von den Nürnberger Rassengesetzen betroffen waren und keine Hilfe durch jüdische Organisationen erhielten, und konnte vielen die Ausreise ermöglichen. Margarethe Lachmund und Olga Halle konnten beide Hermanns dafür gewinnen, 1941 und 1942 die Säuglinge Hans-Jürgen und Jutta zu adoptieren. Es war für sie ein großer Schmerz, durch ihr „staatsfeindliches“ Handeln beiden die Kindheit beeinträchtigt zu haben: in ihrem Hause gaben Eva und Carl nämlich 1943 eine Zeitlang einem befreundeten jüdischen Ehepaar Zuflucht (auf deren Wünsche nach frischer Luft und Kultur sie trotz der zusätzlichen Gefährdung wie selbstverständlich eingingen). Ihre Hilfe wurde entdeckt, als die Flüchtenden kurz vor dem Übertritt in die Schweiz verhaftet und die Stationen ihres Weges bekannt wurden. Als zusätzliche Anklage wurde Eva und Carl vorgeworfen, feindliche Sender gehört zu haben, Carl erhielt eine Strafe von acht Jahren, Eva von vier Jahren Zuchthaus.
Ihr Bericht über die Zeit in einem elsässischen Gefängnis „Gefangen und doch frei“, zuerst 1947 von amerikanischen Quäkern veröffentlicht und erst jüngst wieder aufgelegt, gehört zu den kostbaren Zeugnissen deutscher Freunde in schwerer Zeit:
„Wir politischen Gefangenen rechneten überhaupt nicht damit, daß man uns das Ende des Dritten Reiches würde erleben lassen, wir glaubten die Vernichtung unentrinnbar vor uns. Und ich lebte mitten in der Freude… Wenn noch ein Wunsch für dieses Leben in mir war, so war es nicht, Mann und Kinder und Eltern wiederzusehen, alle menschlichen Bindungen waren gelöst; ich wünschte mir nur noch, einmal einem Menschen gegenüberzustehen, mit dem ich eins war, in dem, was ewig ist. Aus diesem Wunsche erwuchs meine Freundschaft mit Lydia, der Italienerin, die für uns beide unbeschreiblich hilfreich und beglückend wurde…
Eva Hermann: Gefangen und doch frei
Die anderen warteten fieberhaft von einem Tag auf den anderen auf die endliche Ankunft der alliierten Truppen. Ich hatte aufgehört zu warten. Ich war völlig bereit für alles, was kam, für jeden neuen Tag und seine Aufgabe. Es war ein Leben in der Gegenwart, die Ewigkeit ist, und ich wußte, daß kein Strafende, kein Gnadenerlaß, kein Amerikaner mich freier machen konnte, als ich war…“.
Eva hat die späte Anerkennung für ihrer beider unerschrockenes Tun stets mit dem Hinweis auf andere, die genauso gehandelt haben, und „mit einer gewissen Beklemmung“ angenommen: den Ehrenbrief des Landes Hessen, das Bundesverdienstkreuz und die israelische „Medaille der Gerechten“, die damals – zu ihrem Erstaunen – kaum mehr als hundert Deutschen verliehen war und dazu berechtigte, in der zentralen Gedenkstätte Yad Vashem einen Baum zu pflanzen. Bei einer ihrer vielen Israel-Reisen hörte sie auf dem Flughafen in Tel Aviv einen unverständlichen Ruf und warf sich – ohne sich später erinnern zu können, weshalb – auf den Boden. Viele ihrer Mitpassagiere wurden durch eine Maschinengewehr-Salve von Terroristen erschossen. Sie hat sich zeit ihres Lebens gefragt, weshalb gerade sie – erneut – verschont wurde.
Schon früh hat Eva sich für Frauenfragen und feministische und moderne Theologie interessiert und war in Marburg, wo sie lebte, nicht nur Mitbegründerin der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, sondern auch des Frauenrats. Sie stützte sich schon 1970 in ihrer Cary-Vorlesung auf Dorothee Sölle und andere kritische Theologen. Daß sie auch den deutschen Freundinnen und Freunden nicht unkritisch begegnete, zeigte sie in diesem Vortrag „… in dem, was ewig ist“ u.a. durch provozierende Zitate eines Engländers, der 1859 über die Religiöse Gesellschaft sagte: „Ursprünglich waren die Quäker eine Sekte, die am meisten vor den Augen der Welt war. Ihre heutige Besonderheit ist, dass sie die privateste und verborgenste aller Körperschaften ist“, … sie hätten die aufregende Aggressivität aufgegeben, die unter der Führung des Geistes den Traum eines weltweiten Quäkertums in die Tat umsetzen sollte. (S. 8f.) Und vor allem den Jüngeren unter uns sagte sie, daß ihr die Meinung, ohne Jesus auskommen zu können, so schiene, als wolle man sich aufs Weltmeer wagen mit einem Kompaß ohne Magnetnadel.
„Ich wüßte nicht, wie ich gegenüber der Gestapo meine grundsätzliche Ablehnung des Nationalsozialismus hätte begründen können ohne Hinweis auf das Neue Testament. Wollen wir auskommen mit dem Inneren Licht allein ohne festen Bezugspunkt? Dann träfe uns wohl der Vorwurf nicht zu Unrecht, der uns gelegentlich gemacht wurde: die Quäker sähen das Licht nur, wenn es durch ihren eigenen Gasometer käme. Ich fürchte, daß wir dann in nicht allzu ferner Zeit aus dem Stoßtrupp des Glaubens, in dem sich die Freunde einmal befanden, in die Nachhut geraten …“ (S. 34).
Eva Hermann: … in dem, was ewig ist …
Eva ließ erkennen, daß sie in der Tat aus einer Vision heraus lebte, die sich nicht auf die widersprüchlichen und schwierigen Situationen der Welt richtete, auf das, wofür Heldentum nötig war. Ihre Vision bezog sich auf einfache Lebens-Erfahrungen, die allen zugänglich sind. Für sie geschah göttliche Führung in den Alltäglichkeiten und sie war sich sicher, daß sich der Wille Gottes durch die Fähigkeiten normaler Menschen in den gewöhnlichen Dingen des täglichen Lebens manifestieren kann. Und: „Wir krausen die Stirn, wenn einer von uns schlichte Gedanken äußert, die … ihm beim Anblick blühender Bäume oder huschender Junghasen gekommen sind. Sind nicht Denk- und Beobachtungsfähigkeit auch Gaben des Schöpfers? … Ich fürchte, es bleibt unter uns so manches Wort ungesagt, das, wenn ausgesprochen, allen hilfreich sein könnte.“ (S.12f). Es ist nur konsequent, daß sie eine Abneigung gegen fromme Reden hatte und sich freute, wenn Freundinnen und Freunde erkennbar der leisen inneren Stimme zu folgen vermochten.
Ihr Haus war immer voll von Menschen aus anderen Ländern und sie sprach mit Wärme von „ihren“ Afrikanern. Wer ihre helfende Hand brauchte, konnte sicher sein, nicht ohne das „lebendige Wasser des Lebens“ zu bleiben, das galt auch für die ihr zugelaufenen Kätzchen, um die sie sich rührend sorgte. Einfühlend und behutsam hat sie sich unaufhörlich anderen zugewandt und verstand auf unnachahmliche Weise zu ermutigen: „Ich habe euch so vermisst …“ In persönlicher Freundschaft hat sie auch an ihren Zweifeln und Schmerzen teilnehmen lassen, die in den letzten Jahren nicht geringer wurden. Sich selbst gegenüber kritisch, litt sie an der harten Selbstbeurteilung Ruth von Gronows kurz vor deren Tod, sie würde damit nicht fertig; „wieviel Richtiges muß jemand erkannt haben, um so vieles falsch nennen zu können …“.
Wenn Eva Hermann sprach, auf Versammlungen und in Andachten, so geschah dies, weil sie sehr aufmerksam zuhören und vom Grunde her antworten konnte, aus tiefer geistiger Erfahrung, einfach und klar. Wer ihr begegnet ist, wird nicht ihre manchmal zitternde Stimme vergessen, nicht den geneigten Kopf und ihr wie verlegen wirkendes stilles Lächeln. Durch sie hindurch wurde für einige von uns etwas sichtbar von dem, was ewig ist.
Quelle: Konrad Tempel, Der Quäker, 1997, Ausgabe X, S. XX-XX.